Geschichte des Aikijutsu

Von den Anfängen bis zu Takeda Sokaku

Historisches

Das Aikijūjutsu, die Basis von Ueshiba Moriheis Aikido, verfügt über eine Erzählung, dass es in fernen Tagen entstanden sei und dass berühmte Personen der japanischen Geschichte an seiner Entwicklung beteiligt waren. Im Folgenden eine kompakte Zusammenfassung der Geschichte bis zu Takeda Sokaku.

1 Die Kaiserfamilie

Zu Beginn der Heian-Zeit hatte sich die Familie des japanischen Kaisers so sehr vergrössert, dass der Hof nicht mehr in der Lage war, alle entfernten Verwandten angemessen zu versorgen. Daher beschloss man im Jahre 814, alle kaiserlichen Verwandten, die nicht dem engeren Familienkreis angehörten oder für Regierungsaufgaben benötigt wurden, ausserhalb der Hauptstadt anzusiedeln, wo sie als Feudalherren mit ansehnlichen Ländereien ein neues Leben begannen.

2 Minamoto Familie

Aus den einzelnen Familien entstanden mit der Zeit mächtige Clans mit unterschiedlichen Namen.
Darunter war auch die Familie der Minamoto bzw. Genji entsprechend der sinojapanischen Lesung des Namens. Sie ist nach ihrem Ahnherrn Minamoto Tsunemoto (源 経基; 894 - 961) benannt.
Die Minamoto siedelten sich in der Nähe der Hauptstadt Kyōto an. Wie alle anderen Fürsten unterhielten sie eine eigenständige Armee.

3 Aikijutsu 合気術

Diesem Minamoto-Clan wird die Entwicklung des Aikijutsu zugeschrieben, das die Grundlage der militärischen Ausbildung jener Zeit war. Es bestand zuerst hauptsächlich aus verschiedenen Methoden des Schlagens gegen Öffnungen und Anschlussstücke von Rüstungen. (Artikel über Aiki hier im Blog).
Mit General Minamoto Yoshimitsu (1056 - 1127) verfeinerten sich die unbewaffneten Techniken für die Nahdistanz. Sie wurden die Basis des heutigen Aikijujutsu.
Yoshimitsu studierte zusammen mit seinem Bruder Minamoto Yoshii die Anatomie des menschlichen Körpers. Angeblich soll er sogar Leichen seziert haben. Viele der bis dahin verwendeten Schläge wurden von ihm durch Arm- und Gelenkhebel ersetzt.

4 Hogen und Gempei Kriege

Der in Kyōto ansässige Clan der Taira rang mit den Minamoto um die Vormachtstellung am kaiserlichen Hof. 1156 kam es zum Hogen-Krieg, in dem die Taira den Minamoto-Clan vernichtend schlugen und die führenden Mitglieder der Familie hinrichteten. Nur Yoritomo und Yoshitsune, die beiden jüngsten Söhne des damaligen Minamoto-Fürsten wurden ins Exil auf die Halbinsel Izu verbannt.
Die harte Herrschaft der Taira führte zu Unruhen und Revolten. Yoritomo und Yoshitsune begannen 1156 mit ihrer heimlich im Exil aufgebauten Armee den Gempei-Krieg gegen die Taira.
Nach fünf Jahren heftiger Kämpfe besiegten die Minamoto im März 1185 in der Seeschlacht von Dan-no-ura die Taira vernichtend.

5 Takeda Clan

Das Aikijutsu wurde dann vom Takeda-Clan, eine der vielen Seitenlinien der Minamoto, weiter gepflegt. Dieser war in der Provinz Kai (甲斐国, kai no kuni, heutige Präfektur Yamanashi) sesshaft geworden.
Die Takeda entwickelten aus dem Aikijutsu ihre spezielle Kampfkunst, der sie den Namen Takeda-ryū gaben. Dieses System beinhaltete waffenlose Techniken für den Nahkampf, Bogenschiessen, Reiten, Speer- und Schwertkampf und Gelände-Strategien für das Schlachtfeld.
Ein bekannter Fürst des Clans ist Takeda Shingen (1521-1573). Er ist die Hauptfigur in dem Film von 1980 "Kagemusha - Der Schatten des Kriegers" von Akira Kurosawa. Eine Besprechung des Films findet sich hier im Blog.

6 Takeda in Aizu

Im Jahr 1572 kämpfte Takeda Shingen wieder einmal gegen Tokugawa Ieyasu und besiegte ihn schliesslich. Er starb im April 1573 aufgrund einer Kriegsverletzung. Sein Sohn Takeda Katsuyori übernahm die Leitung des Clans.
Seinen anderen Sohn Takeda Kunitsugu (1551-1592) hatte er nach Aizu im nordöstlichen Teil der japanischen Hauptinsel Honshū geschickt, um bei diesem Zweig der Takeda-Familie um Unterstützung nachzusuchen. Diese wagten zu diesem Zeitpunkt jedoch keine militärische Auseinandersetzung mit den Tokugawa. Stattdessen boten sie Kunitsugu ein Shōen (荘園) an, ein eigenes, steuerfreies Landgut. Ausserdem engagierten sie ihn als Kampfkunstlehrer.

7 Untergang der Kai Takeda

Tokugawa Ieyasu brachte den amtierenden Shōgun Oda Nobunaga dazu, die Takeda gemeinsam anzugreifen. Ihre Armeen waren mit Musketen bewaffnet. In der Schlacht von Nagashino im Mai 1575 fanden 12.000 Samurai der Kai Takeda den Tod und Takeda Katsuyori musste mit den Überlebenden den Rückzug nach Kai antreten.
Tokugawa und Nobunaga griffen die Takeda im Februar 1582 in Kai erneut an. Nach einem vergeblichen Kampf gegen die Übermacht, beging Katsuyori Seppuku. Der letzte Takeda, Takeda Kunitsugu nahm daher das Angebot seiner Verwandten aus Aizu an und unterrichtete einen kleinen Kreis von Personen am Hof von Aizo im Takeda-ryū zu unterrichten.

8 Nisshinkan 日新館

Beim Tod 1592 von Takeda Kunitsugu gab es in Aizu mehrere Formen des Takeda-ryū. Seine Nachfolger gründeten um 1664 eine zentrale Ausbildungsstätte, den Nisshinkan. (Der Name ist im abgebildeten Foto auf dem Tor traditionell von rechts nach links geschrieben.) Es durften nur Samurai mit einem Einkommen von über 500 koku, die Hofdamen und die direkten Diener des Daimyō diese Schule besuchen. Am Nishinkan wurden fünf Stile des Kenjutsu und zwei Stile des Jūjutsu gelehrt. Zusätzlich entstanden viele private Trainingsstätten. Insgesamt gab es in Aizu mehr als 94 Kampfkunstschulen der verschiedensten Art.
Bestimmte Kampfkünste waren nur für die oberste Schicht zugänglich. Das Wissen durfte nicht an Gefolgsleute von geringerem Stand weitergegeben werden. Unter diese Regelung fiel auch das Aikijūjutsu.

9 Niedergang in der Meiji-Restauration

Die von den Takeda begonnenen Kampfsysteme der Aizu-Samurai wurden so über Generationen weitergegeben. Mehr als zehn Generationen nach Takeda Kunitsugu wurden sie gegen Ende der Tokugawa-Periode nur noch von einer kleinen Gruppe von Kampfkunstexperten praktiziert. In der turbulenten Zeit der Meiji-Restauration hatten es die traditionellen Kampfkünste schwer gegen die starken ausländischen Einflüsse zu bestehen.

Zur Ergänzung ein Artikel zur Meiji-Restauration hier im Blog.

10 Saigo Tanomo

Der Aizu-Clan kämpfte in den Auseinandersetzungen um die Zukunft Japans auf der Seite der Anhänger des Shogun gegen die Anhänger des Kaisers. Diese Zeiten sind z.B. in den sehenswerten Filmen MIBU GISHI DEN von 2002 und GASSOH von 2015 beschrieben. Letzlich fand sich der Aizu-Clan auf der Verliererseite.
Der damalige Vertreter der Takeda-Kampfkunst Saigo Tanomo (1830-1903) unterlag zuletzt in der Schlacht von Shiragawaguchi im Frühjahr 1868 den kaiserlichen Truppen. Die meisten seiner Samurai fanden den Tod. Da die Familie von Saigo ihn auch unter den Toten wähnte, beging sie kollektiv Seppuku. Saigo hatte aber überlebt und unterrichtet später noch fast 20 Jahre in Aizu und im nahen Fukushima die Takeda-Ryu. Da sein (Stief-)sohn sich dem Judo unter Jigorō Kanō zuwandte und dort Karriere machte, bestimmte Saigo den jungen Takeda Sokaku (1859-1943) als seinen Nachfolger.

11 Takeda Sokaku

Takeda Sokaku war ein überzeugter Ronin. Er war ständig auf Wanderschaft, um andere Meister herauszufordern und sich im Kampf zu testen. Dabei soll er auch einige getötet haben. Das öffentliche Tragen von Schwertern war schon seit 1878 verboten. Die japanischen Autoritäten nahmen Takeda schliesslich sein Schwert weg, welches er unerlaubterweise stets mit sich getragen hatte. Mehrere Jahre verbrachte er auf Kyūshū. Doch regelmässig kehrte er nach Fukushima zurück, um unter der Leitung von Saigo Tanomo zu trainieren. Seit 1910 lebte er dann auf Hokkaidō, das gerade von den Japanern kolonialisiert wurde, wie es z.B. in dem Film "Kita no Zeronen" von 2005 erzählt wird. Es war ein Rückzugsort für viele, die mit den Gesetzen in Konflikt geraten waren. Er verliess die Insel nur selten. Seine Kampfkunst unterrichtete er auch Personen ausserhalb seines Clans.
Im Jahre 1915 brachte Yoshida Kentaro (1886-1964), der in den USA als Spion tätig war und zeitweise auf Hokkaidō untertauchte, Ueshiba Morihei in das Dojo von Takeda.

Bezeichnungen: Aikijutsu (合気術) sind alle Kampftechniken (Jutsu 術), welche mit Aiki (合気) funktionieren. Mit Jūjutsu (柔術) werden die waffenlosen Techniken bezeichnet, und nicht wie oft behauptet wird, die "sanften" oder "weichen" Techniken. Aikijūjutsu (合気柔術) ist also eine Untergruppe der Aikijutsu-Techniken.


Zusammenfassung

  1. Die Kriegs-/Kampfkunst Aikijutsu stammt aus der Kaiserfamilie.
  2. Sie war ein komplettes System für die Kriegsführung.
  3. Berühmte Persönlichkeiten aus der Minamotofamilie haben prägend an ihrer Entwicklung mitgewirkt.
  4. Trotz der Gefahr des Untergangs wurde sie mehrmals von den einzigen Überlebenden fortgeführt.
  5. Sie wurde ursprünglich nur an einen kleinen Kreis Eingeweihter weiter gegeben.
  6. Takeda Sokaku unterrichtete dann Aikijūjutsu auch für Personen ausserhalb seines Clans.

Quelle: budopedia.de, bearbeitet und illustriert.