Bosco Gurin August 2019

Sommerseminar mit Doshu Yoshigasaki

Doshu Yoshigasaki

Vom 24. bis 31. August 2019 fand wieder das alljährliche Sommerseminar "Aikido und Misogi" mit Doshu Yoshigasaki in Bosco Gurin (CH) statt. Die Aikidoka übernachten in Mehrbettzimmern im Landschulheim der Gemeinde Balerna. Trainiert wird in angemieteten Räumen im Ostello Giovani Bosco, einer Art Jugendherberge, die besonders im Winter stark belegt ist. Bosco Gurin ist ein bekannter Wintersportort im Tessin.
Morgens von 6:15 Uhr bis 7:00 Uhr findet MISOGI im Dojo statt. Die Zeit ist so gewählt, dass auch jene, die vielleicht verschlafen haben, noch eine Chance zum Aufstehen haben. Um genau 6:00 Uhr läuten nämlich die Glocken der Dorfkirche so laut, dass man normalerweise davon aufwacht. Nach dem Misogi gibt es Frühstück und um 8:30 Uhr beginnt der Aikidounterricht, der bis 12:00 Uhr geht. Es sind alles "Instruktor-Stunden". Der Lehrgang ist nur für Lehrer- und Dangrade gedacht. Als Ausnahme dürfen allerdings einige wenige engagierte Aikidoka aus Balerna, dem veranstaltenden Dojo, teilnehmen. Der Nachmittag steht jeweils zur freien Verfügung. Bei gutem Wetter gehen manche Bergwandern oder Schwimmen. Viele nutzen auch die Zeit, um im Dojo die Lehrinhalte des Morgens zu wiederholen und zu vertiefen oder um sich auf Examen vorzubereiten.

Fotos vom Seminar

und den Prüfungen

Geschichte des Aikido

Im Aikidounterricht begann Doshu Yoshigasaki mit seiner Sicht auf die Geschichte des Aikido. Die Techniken selbst stammen vom Daito-Ryu-Aiki-Jujutsu des Takeda Sokaku (1859-1943), einem ehemaligen Samurai. Die waffenlosen Techniken sind aus den Bewegungen mit dem Schwert abgeleitet. Daher gibt es schneidende Bewegungen und den Gebrauch der Arme wie beim Schwertkampf: beide Hände befinden sich in einem fixen Abstand zueinander. Ueshiba Morihei (1883-1969), der Gründer des Aikido, lernte bei Takeda und unterrichtete anfangs auch dieses Aiki-Jujutsu. Sein technisches Konzept waren Dreieck, Kreis und Quadrat. Das Dreieck symbolisiert das kollisionslose Ausweichen, der Kreis bedeutet, den Angreifer kreisförmig zu führen, und das Quadrat versinnbildlicht den kompakten und stabilen Abschluss, bei dem der Angreifer fällt oder am Boden fixiert wird. Tohei Koichi (1920-2011) entwickelte ein eigenes Lehrsystem. Dazu benutzte er seine berühmten 5 Prinzipien (und viele weitere). Typisch für seine Interpretation der Techniken war das Führen des Angreifers durch Vorgabe der Richtung mithilfe der Finger der führenden Hand, d.h. er benutzte das Konzept von Vektoren. Desweiteren entdeckte Tohei den Effekt des Wechsels von der äusseren zur inneren Wahrnehmung. Damit konnte er den "Geist des Angreifers ändern". D.h. er veranlasste den Angreifer, seine Absichten zu ändern.

Techniken

Das technische Programm der Woche bestand aus zwei Hauptthemen. Zum Einen waren es die elementaren Akte, die auf Aikidoprinzipien beruhen und dem Selbstschutz im realen Umfeld dienen. Zum Anderen wurden die Techniken zum 2. Dan geübt, wie Ushirodori, Tanto 2, Bokken 2 mit Partner, Jo 2 mit Bokken, Bokkendori usw. Alles wurde unter Gesichtspunkt der "Mathematik der Formen" studiert. Die "Mathematik der Punkte" ist bekanntlich nur gut für Material und Maschinen. Eine wichtige Rolle spielten auch die Konzepte "Änderung der Form" und die "Änderung der Position". Diese Begriffe sind hilfreich, um die den Ablauf der Aikidotechniken zu verstehen. Die theoretischen Grundlagen sind wichtig für Aikidolehrer, welche damit eine Basis für den Unterricht haben und das Aikido weiter entwickeln können. Yoshigasaki verglich auch immer wieder die übliche westliche Denkweise mit der traditionellen japanischen Sicht der Welt. Das ist für uns Europäer zumindest in der Hinsicht hilfreich, dass wir unsere teilweise unbewussten Sichtweisen besser erkennen können.

SHODO und Malerei

Die freien Nachmittage nutzten die Teilnehmer ganz unterschiedlich. Ein Teil liess sich von Michal Hájek in die Kunst der japanischen Kalligraphie SHODO einführen. Michal hatte die gesamte Ausrüstung dazu mitgebracht: Pinsel, Tuschesteine, spezielles Papier und Vorlagen für die Schreibübungen. Am Rande der Mattenfläche zeigte er den Interessierten, wie sie Tusche herstellen, das Papier richtig auslegen und fixieren und wie sie den Pinsel richtig führen. Die Bedeutung der Schriftzeichen, Kanji oder Hiragana, war dabei weniger wichtig, geübt wurde die Übertragung des persönlichen Ausdrucks aufs Papier. Aus Moskau war Anna zusammen mit ihrem Bruder Maxim, der am Lehrgang teilnahm, angereist. Sie ist Künstlerin in Design und Malerei. Mit der Staffelei zog sie ins Freie und malte einige Ansichten von Bosco Gurin. Auf ihrer Website erhält man einen hochinteressanten Eindruck vom Umfang ihres Schaffens. annabo.ru.

Ausflug ins Tal der Verzasca

Damit die teilweise von weither angereisten Teilnehmer etwas mehr von der Schweiz zu sehen bekommen, fndet an einem Tag in der Woche, meistens mittwochs, kein Aikidounterricht statt. Stattdessen gibt es die Möglichkeit, an einem Ausflug in die Umgebung teilzunehmen. Dieses Jahr war das Ziel das Tal der Verzasca, wie auch schon einmal im Jahr 2007. Dazu muss man von Bosco Gurin das Vallemaggia hinunterfahren, es bei Locarno verlassen und dann in Gordola in das parallel gelegene Verzascatal einbiegen. Der Tag war anfangs verregnet, das Wetter besserte sich aber bei der Ankunft in Sonogno. Dort gibt es einen schönen Wasserfall "La Froda". Nachdem wir diesen besichtigt hatten - einige badeten im kalten Teich, einer setzte sich sogar unter das herabstürzende Wasser - speisten wir vorzüglich in der der Grotto Efra. Danach ging es zurück nach Lavertezzo mit der berühmten Brücke, den blanken Felsen und dem türkisfarbenen Wasser. Vor zwei Jahren, im Jahr 2017, publizierte ein Youtuber aus Italien ein kurzes Video über die Szene am Ponte Lavertezzo und bezeichnete das Verzascatal als "die Malediven von Mailand". Dies hatte zur Folge, dass sehr viele Touristen aus der Lombardei ins Tal strömten und praktisch die Strassen verstopften. Um diesem überbordenden Ansturm zu entgegnen, wurde ein Parkticket für das ganze Tal eingeführt. Es kostet nur 10 Schweizer Franken und gilt einen Tag lang. Damit kann man einen Tag lang das ganze Tal besichtigen und jeweils auf den markierten Parkplätzen parken.
Am Abend gab es ein schmackhaftes Abendessen in Bosco Gurin, das von Yvette mit Helfern zubereitet war. Denn ein Grund für den freien Tag ist, dass der Koch und die Hausverwaltung wenigstens einmal einen freien Tag in der Woche haben.

Graduierungen

Am Freitag kurz vor Mittag nahm der Doshu die geplanten Prüfungen ab. In seiner speziellen Art hatte er vorher noch die Prüflinge verunsichert. "Jetzt sind es noch 40 Minuten, um von der Prüfung Abstand zu nehmen". Anscheinend war das ein Test, ob sie sich wirklich bereit fühlten. Christian Veith vom "Ki Aikido Metropolregion Nürnberg" bestand seine OKUDEN-Prüfung ohne Schwierigkeiten und Govert Erkelens vom Dojo Balerna legte erfolgreich seine Prüfung zum 2. DAN ab. Govert kam gut ins Schwitzen. Bosco Gurin liegt auf 1500 m über dem Meer, das scheint sich doch ein wenig bemerkbar zu machen. Als Uke stellten sich Michal Hájek aus Prag, Ryan Jepson und Manja Bozic aus Wien sowie Matteo Grimaldi aus Vercelli zur Verfügung. Letzter zeigte auch im Randori seine Kunst, sehr gekonnt und grossräumig zu fallen.

Akte

Am Samstag wiederholte Sensei Yoshigasaki die Hitoriwaza. Dabei zeigte er, wie anwendungsorientiert diese Übungen sein können. Er entwickelte aus den Hitoriwaza-Übungen elementare Bewegungen, sogenannte Akte, die für den Selbstschutz im realen Leben nützlich sind. Das ist ein sehr interessantes Gebiet. Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass der physische Teil des Aikido nicht nur Kunst - im ungünstigen Falle sogar künstlich - auf den Matten im Dojo ist. Mit den Elementen des Aikido lässt sich eine wirksame Selbstverteidigung entwickeln. Diese ist dann aufgrund der Aikidoprinzipien nicht aggressiv und an die Situation angepasst. Techniken sind laut Doshu "festgelegte Bewegungsabläufe in einem vorgegebenen Rahmen zu einem bestimmten Zweck". Das Problem dabei ist, das alleine der Wille, unbedingt den Zweck erreichen zu wollen, zu Aggressivität führt. Techniken sind also inhärent aggressiv. Mit dem Konzept der Akte lässt sich ein freies Agieren erlernen, das gemäss den Aikidoprizipien nicht aggressiv ist. Ausserdem sind die Akte unendlich variabel und immer an die reale Situation anpassbar.

Nach dem Ende des Unterrichts halfen alle Teilnehmer, die Matten wegzuräumen. Und nach dem Mittagessen zerstreuten sich alle in viele Richtungen. Wir freuen uns auf das Wiedersehen im nächsten Jahr. Ein zusammenfassendes Video findet sich auf der Website von Aikido Balerna: zum Video .