Haigerloch Mai 2012

Seminar mit Yoshigasaki Sensei

Ankunft

Wie jedes Jahr kam der Zug aus Brüssel mit Doshu Yoshigasaki wieder mit Verspätung in Stuttgart an. Gleich auf dem Nachbargleis stand ein Eilzug abfahrbereit nach Tübingen, so dass der Doshu scherzte, er könne ja mit dem Zug weiterfahren, wir hätten ihn gar nicht abholen brauchen.
Nach einem Zwischenstopp zur Erfrischung und Stärkung bei Bernhard in Tübingen, wo Yvette ein schmackhaftes Mahl zubereitete, ging es am späten Nachmittag nach Haigerloch in die Witthauhalle. Dort hatten die fleißigen Aikidoka aus Haigerloch und Balingen schon die riesige Mattenfläche verlegt.
Alles war gut vorbereitet und Sensei konnte mit der ersten Lektion beginnen. Das Hauptthema des Lehrgangs waren wieder die Linien, die als theoretische Vorstellung bei der richtigen Umsetzung der Aikidotechniken helfen sollen. Dazu gab es schon am Freitagabend ausführliche Übungen.

Punkte und Linien

Die meisten Menschen sind vom Mathematikunterricht ihrer Schulzeit durch die Vorstellungen von Punkten und Punktkoordinaten geprägt. Das führt leicht dazu, dass die darauf basierenden Theorien aus der Physik, genauer aus der Mechanik, unreflektiert ins Aikido übernommen werden. Der Haken an der Sache ist, dass die Punkte eine Abstraktion sind, die es im wirklichen Leben gar nicht gibt. Im Leben gibt es eher Linien.
Die Punkte sind in der Physik eng mit der Vorstellung von Kräften und Gegenkräften verbunden, die an diesen Punkten ansetzen. Das ist eine gute Theorie, um Maschinen zu bauen, aber im Aikido führt es zu schlechten Bewegungen und im Endeffekt zu einer inhumanen Handlungsweise.
Aikido mit gängigen naturwissenschaftlichen Theorien zu erklären, wurde in den 1950er und 1960er modern, als die ersten japanischen Aikidolehrer in die USA und nach Europa. Sie versuchten so, die Prinzipien des Aikido den westlichen Schülern näher zu bringen.

Wissenschaft

Heutzutage gilt alles als richtig, was wissenschaftlich bewiesen ist. Leider funktioniert die übliche strenge wissenschaftliche Logik nur in den abgeschlossenen Systemen bzw. Szenarien, die vor den Untersuchungen eng festgelegt werden. Danach werden die Ergebnisse aber dann gerne einfach auf andere Gebiete extrapoliert, was eigentlich schon wieder völlig unwissenschaftlich ist.
Für das Verständnis des Lebens benötigen wir aber andere Theorien als die physikalische Mechanik oder die Punktgeometrie. Diese eignen sich nur für materielle Objekte und Maschinen.
Hier sieht der Kenner deutlich wie sich die Linientheorie in den Techniken zeigt. Interessanterweise bleibt dies nicht ein theoretischer Diskurs, sondern lässt sich mit den Aikidotechniken gut nachvollziehen. Die Vorstellung von dem, was man tut, hat wesentliche Auswirkungen auf die Art, wie man es ausführt.
Dies konnte Sensei Yoshigasaki überzeugend in allen seinen Beispielen vermitteln. Leider ist es nicht immer ganz so einfach, sich aus den festgefahrenen Vorstellungen zu lösen und seinen Horizont zu erweitern. Aber dazu war der Lehrgang ja gedacht und deswegen trainieren wir ja auch immer weiter.

Zwei Traditionen

Ein anderes Missverständnis bezüglich der Kampkünste resultiert daraus, dass es in Japan zwei Strömungen gibt, die die Tradition des Budo erhalten wollen. Die eine ist die militärische, sie setzt die Tradition der Samurai-Soldaten vom Schlachtfeld fort. Die andere ist jene der herrenlosen Samurai (Ronin), die ohne Rüstung und arbeitslos ihren Weg finden mussten. Dabei entwickelten sie in der langen Friedenszeit der Tokugawa-Perioden (1645 – 1851) ihre spezielle Art, Konflikte friedlich zu lösen: Auch friedliches Handeln mit dem Schwert. Aus dieser Tradition stammt das Aikido.
Die ersten Lehrer, die Aikido im Westen bekannt machten, waren im Zweiten Weltkrieg in Japan in der Armee gewesen und wurden dort auf die militärische Variante getrimmt. So kam es, dass sie später eher zackige Gymnastik, brachiale Techniken oder Vorführungen „im Gleichschritt“ unterrichteten. Erst sehr viel später besann man sich wieder auf die traditionellen Inhalte des Budo der Ronin, genauer gesagt Yoshigasaki Sensei propagiert diese und beschreibt sie auch in seinem neuen Buch "AIKIDO - Kunst und Lebensweg".

Jo 1 und Bokken

Am Samstagabend gingen die meisten noch, wie immer, in die Pizzeria in Haigerloch, um sich in gemeinsamer Runde für den nächsten Tag zu stärken.
In der Lektion für alle Teilnehmer am Samstagmorgen ging es weiter mit dem Programm für den 2. Kyu, mit allen oben beschriebenen Aspekten.
In der Stunde für Aikidolehrer und Fortgeschrittene studierte Yoshigasaki Sensei die Tsuzukiwaza Nr. 25. Das ist ein Wechselspiel zwischen einem Partner mit Jo (Holzstab, 127 cm) und einem zweiten mit Bokken (Holzschwert, 102 cm). Es gibt wechselseitige Bedrohungen und Kontrollmöglichkeiten und reihenweise Konterchancen.
Diese festgelegte Folge von Techniken, im Original 22, jetzt erweitert um viele Varianten, wurde ursprünglich von Tohei Sensei zusammengestellt. Wie bei fast allen Aikidotechniken sind die Varianten anspruchsvoll und bieten ein weites Feld um die Feinheiten des Aikido zu studieren und sich dabei weiter zu entwickeln.

Samstag Mittag

Mittags gab es ein schmackhaftes Mahl (Risotto u.a.), das die beiden italienischen Freunde Fabio und Massimo zubereitet hatten. Sie hatten alle Zutaten und sogar die riesigen Kochtöpfe aus Italien per Auto mitgebracht und mussten am Samstagmorgen stundenlang kochen bis alles fertig war. Vielen Dank für die große Mühe und das gute Essen. Ihr Lehrer Bruno Maule, der diese Aktion initiiert hatte, war erst am späten Freitagabend mit dem Flugzeug eingetroffen.
Nach der Mittagspause ging es dann im Thema weiter, zuerst in der Stunde für alle teilnehmenden Aikido und später wieder in einer Lektion nur für Dan-Träger und Instruktoren.
Danach fuhren unsere Freunde aus Frankreich (Belfort, Ronchamp, Beaufort) wieder nach Hause und die meisten der Anderen begaben sich in die Haigerlocher Krone zum Abendessen.
Im Saal gab es einen Projektor und eine Leinwand, auf der nach dem Essen das Finale der Champions League verfolgt werden konnte. Es spielten Bayern München gegen Chelsea London in der Allianz Arena in München. Chelsea gewann nach Elfmeterschiessen. Freude und Enttäuschung waren unterschiedlich verteilt, einerseits bei den Anhängern der Münchner, andererseits kommt Ryan, der in der Hechinger Gruppe trainiert, aus England.

Sonntag

Am Sonntagmorgen begannen die Lehrer und Dan mit ihrem Training und konnten die anspruchsvolle Langfassung von Tsuzukiwaza 25 endlich fertig üben.
In der folgenden Stunde für Alle wiederholte Yoshigasaki Sensei die Themen der vergangenen beiden Tage, so dass alle Aikidoka ihre Erfahrungen festigen konnten.
Insgesamt war es wieder ein sehr lehrreiches Wochenende mit vielen Teilnehmern aus Haigerloch, Hechingen und Balingen, das sind die drei Dojos, die regelmäßig diesen Lehrgang im Rahmen des Solidaritätsfonds Aikido veranstalten.
Weitere Teilnehmer kamen, wie schon erwähnt aus Frankreich, aus der Schweiz sowie aus Stuttgart und Heidelberg. Der Lehrgang klang aus mit einem kleinen Imbiss in der Haigerlocher Pizzeria. Dann brachte Bernhard Yoshigasaki Sensei wieder zum Zug nach Stuttgart.
Wir freuen uns auf den Haigerlocher Lehrgang mit Yoshigasaki Sensei im nächsten Jahr!

Text: Bernhard Boll
Fotos: Ronny Engelke, Jean-Paul Lett

Gruppenfoto

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