Werfen im Aikido

Werfen, um zu siegen

Den Gegner zum Zeichen seiner Niederlage zu Boden zu werfen kennen wir schon aus den Ritterturnieren im europäischen Mittelalter. Dort versuchten die Kontrahenten, sich gegenseitig mit langen Lanzen vom Ross zu stossen. In einer der ältesten Kampfkünste Japans, dem Sumo, ist es bis heute so, dass der Gegner aus dem Ring geworfen werden soll.
In diesem Beispielvideo aus dem Jahr 2024 (Kobudo; Shibukawa Ichiryū Jūjutsu) sehen wir, wie das Werfen zuerst dazu dient, den Angriff unschädlich zu machen, um dann den Gegner am Boden zu kontrollieren. Den Angreifer zu kontrollieren, ohne ihn zu werfen, gelingt, wenn er an den Armen sofort zu Boden geführt werden kann.
Die Alternative zum Werfen in den modernen Budodisziplinen (gendai budo) sind Tritte oder Schläge wie im Karate oder die famosen Atemi im Aikido, was natürlich auch zur Folge haben kann, dass der Angreifer zu Boden sinkt. Im Judo als Wettkampfsport sind Würfe das Mittel der ersten Wahl. Aikido hat das Werfen aus dem Daitoryu Aikijujutsu geerbt.

Werfen im Aikido

Im Aikido auf der Matte, wo es nicht um Sieg oder Niederlage geht, dient das Werfen hauptsächlich dazu, eine Bewegungsfolge (Technik) gut abzuschliessen. So kann Nage ganz befreit sein Ki fliessen lassen, was positiv für seine körperliche und geistige Gesundheit ist.
Dieses Beispielvideo von 2009 zeigt die Techniken zenpōnage, kirikaeshi und kaitennage aus Tsuzukiwaza 1 mit Yoshigasaki Sensei als Nage. Es ist offensichtlich, dass solch harmonische Bewegungen nur auf der Matte möglich sind. Ein Angreifer auf der Strasse würde a) wahrscheinlich anders angreifen und b) alles daran setzen, um nicht fallen zu müssen. Würfe im Fall einer realen Selbstverteidigung bergen das Risiko von schweren Verletzungen für im Fallen ungeübte Angreifer. Gerichte würden so etwas als Notwehrexzess bewerten und der Angegriffene müsste mit einer Verurteilung rechnen.

Werfen auf der Strasse

Yoshigasaki: " ... und das war ein Irrtum von Meister Tohei. Er dachte, man müsse immer (die Leute) werfen. Und das ist falsch. Im wirklichen Leben darf man nicht werfen. Warum ?"
A: "Vielleicht verletzt sich die Person."
Yoshigasaki: "Nein, man hat nicht das Recht, andere Personen zu werfen! Man hat kein Recht dazu."

Bosco Gurin 2019

Magisches Werfen

Diese Aufnahmen wurden wenige Monate vor dem Ableben von Ueshiba Morihei gemacht. Im Selbstverständnis des Gründers zeigen sie, dass er in Einheit mit dem Universum agiert. So hat er keine Techniken nötig. Mit wenigen Bewegungen (Akten) dominiert er Körper und Geist seiner Uke.
Yoshigasaki Sensei meinte, das funktioniere nur mit den eigenen Schülern. Tatsächlich stellt Ueshiba eine spezielle Art der Verbindung zu den Angreifern her (Aiki) und kann sie so nach Belieben kontrollieren. Diese Fähigkeit ist ihm offensichtlich in seiner langen Praxis erwachsen.
Ueshiba will mit der Vorführung zeigen, wie die "Kräfte" des Universums wirken. Aikido sei ein geeignetes Mittel, um diese zu ergründen.

Wiederholtes Werfen

Wohl dem Beispiel von Ueshiba Morihei folgend, lassen sich viele Aikidomeister bei Vorführungen (embukai) ununterbrochen angreifen und zeigen minutenlang zahlreiche Techniken. In manchen Fällen sieht das nach Ego-Show aus, ist aber vielleicht nur bemühte Werbung für die Fähigkeiten, die man sich im Aikido aneignen kann.
Das Beispielvideo zeigt einen kleinen Ausschnitt aus der "All Japan Aikido Embukai" von 2024. Die Aikidoka aus dem Shirakawa-Dojo wirkt sehr energisch (Ki) und absolut sicher. Für sie scheint es Meditation in der Bewegung zu sein. Man darf natürlich nicht vergessen, dass ihre Uke auch sehr gut fallen können müssen. Doch Fallen ist ein anderes Thema ...

PS: Dazu empfehle ich den kürzlich veröffentlichten Artikel von Stefan Neumann vom Aikido Hechingen über Ukemi. Eine pdf-Version gibt es hier.