Turin November 2019

Seminar mit Doshu Yoshigasaki

Anfahrt

Wer an einem Freitagnachmittag von Balerna nach Turin fährt, muss den Feierabendverkehr einplanen. Ab Varese ging es flüssig über die A26 bis wir zu den Reisfeldern in der Poebene kamen. Dort herrschte dichter Nebel, der uns aber glücklicherweise nur wenige Kilometer begleitete. Es klarte wieder auf und im Westen, in Richtung Turin, war wunderschön die schmale Mondsichel mit zwei Planeten am Himmel sehen. Allerdings war die Tangentiale von Turin wegen eines Unfalls verstopft, so dass wir etwas zu spät kamen.
Der Doshu eröffnete die Lektion mit einem klaren Hinweis, dass ein Dojo nicht der richtige Ort ist, um sich zu wortreich zu begrüssen oder Schwätzchen zu halten. Das macht man besser im Vorraum. Wer vor Beginn der Lektion auf die Matte geht, sollte die Zeit zum Üben nutzen, besonders jene, die eine Prüfung absolvieren wollen.

Unterricht

Im Unterricht von Freitag bis Sonntag spannte der Doshu den Bogen von der Geschichte des Aikido bis zu dessen Zukunft in den nächsten Jahrzehnten. Die zahlreichen Erläuterungen, Beispiele und Übungen kann ich hier gar nicht alle beschreiben. So wie es kaum möglich ist, das gesamte Wissen über Aikido in Büchern niederzuschreiben. Die Details und die weiterführenden Inhalte erfährt man in den Aikidoseminaren über die mündliche Überlieferung (japanisch: kuden, 口伝). Dieser Begriff ist von hiden (japanisch: die geheime Überlieferung, 秘伝) zu unterscheiden, wie sie in den Kampfkunstschulen des mittelalterlichen Japan notwendig war. Im heutigen Aikido ist alles transparent, es gibt keine Geheimtechniken mehr.
Der Unterricht begann mit dem Thema DO. Den Weg gehen bedeutet unter anderem, dass man auf direktem Weg zum Ziel kommen will, dass man mit jedem Schritt weiterkommt und dass man jederzeit selbst die Richtung ändern kann. Es folgten Übungen zu den Ki-Test, wie im OKUDEN-Examen. Der Test am Handgelenk, auf einem Bein stehend und den Arm ausstreckend, ist für viele schwierig. Hier gilt es, dass Bein richtig hoch zu nehmen, das stabilisiert die Hüfte. Wer Fortschritte machen will, muss das immer wieder üben.
Aikido ist ein Weg und eine Kampfkunst. Zuerst gab es die Künste aus denen sich DO entwickelten, wie z.B. Chadō, die Teezeremonie. Die Samurai adaptierten diese Art des Übens und so entstanden die Kampfkünste. Wer den Weg des Aikido geht, will besser, stärker, gesünder, flexibler etc. werden. Von der augenblicklichen Situation aus will man sich weiterentwickeln. Dies kann man ein Leben lang so praktizieren. Eine moderne Anwendung dieses Konzepts findet sich im Kaizen (改善 カイゼン), der von Toyota (トヨタ) entwickelten Methode zur ständigen Verbesserung.

Gruppenfoto

Samstagnachmittag

Die Methode des Aikido, Konflikte zu überwinden, besteht darin, den Geist zu ändern (change mind, cambiare mente); auf Deutsch vielleicht besser auszudrücken mit „ seine Einstellung/Absichten ändern“. In der Technik erkennt man diese Änderung dadurch, dass der gesamte Körper die Form ändert.
Die Funktionsweise unserer Wahrnehmung lässt sich oft beobachten, wenn der Lehrer eine andere Form einer Übung zeigt und die Schüler diese dann so ausführen, wie sie sie schon kennen. Die Augen sehen zwar, aber das Gehirn deutet das Gesehene um, und ersetzt es durch schon bekannte Bilder. Ein Lehrer achtet darauf und erklärt viele Übungen mehrmals oder weist sogar einzelne Schüler auf ihre fehlerhafte Auffassung hin.
Beim Bokkendori zeigte der Doshu detailliert den Ablauf. Die drei Anfangstechniken in der aktuellen Form sind mit Absicht so angeordnet, dass Nage sich nicht mehr schematisch nach dem Rechts-Links-Prinzip bewegt. Dahinter steckt natürlich eine Mathematik und die Komplexität ist gut für das Gehirn. Das Arbeiten mit den Händen ist wichtig für die geistige Fitness, ebenso wie die Arbeit mit den Füssen, wie z.B. in der Übung des ki-musubi, wenn die Zehen sich in die Tatami krallen und den ganzen Körper nach vorne bewegen.

Sonntag

Bekanntlich ist Aikido auf der Matte eine Kunstform. Die Anwendung in realen Situationen erfordert andere Verhaltensweisen. Die elementaren Übungen, um sich zu befreien, wenn man festgehalten wird, sind eine Fortsetzung des traditionellen tehodoki (手解き). Als erster Schritt genügt ein Akt, mit dem man sich vom Angriff löst und weitergeht. Auf diese Weise greift man nicht in das Leben des Angreifers ein. Wenn das die Situation noch nicht bereinigt, lassen sich weiter Akte anschliessen, die zu Aikidotechniken werden.
Wenn man sich die Aikido-Videos auf youtube anschaut, stellt man fest, dass das Niveau im Aikido weltweit sehr ähnlich ist. Ein japanischer Meister bedeutet heute nicht mehr automatisch, dass das praktizierte Aikido besser ist. Die japanische Kultur hat Formen und Inhalte entwickelt, die einen allgemein verständlichen Charakter haben und daher auch von uns Westlern praktiziert werden können. Infolge von Internet und Globalisierung kennen aber die jüngeren Japaner kaum mehr die traditionelle Kultur und können diese folglich auch nicht mehr vermitteln.

Fazit

Um Aikido für kommende Generationen zu erhalten, ist es wichtig, dass die heutigen fortgeschrittenen Aikidoka im mittleren Lebensalter sich in alle Aspekte des Aikido gut einarbeiten, um es später weiter unterrichten. Gute Lehrer in den Dojos sind die richtige Basis für die Zukunft.
Deswegen liess Doshu am Samstag und am Sonntag in den Lehrerstunden Bokkendori, Jo 1 mit Bokken und Jo 2 mit Bokken üben. Vorgeführt wurde es jeweils von den Teilnehmern aus der mittleren Altersklasse. In Jo mit Bokken werden in den Kata verschiedene Möglichkeiten der Interaktion gezeigt. Beim Üben lassen sich noch weitere Varianten ausprobieren. Diese können aber nicht alle in die Kata aufgenommen werden, da diese sonst zu umfangreich würde.
Das Seminar war wieder sehr lehrreich. Es war körperlich nicht allzu anstrengend, aber brachte viele Erklärungen zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Aikido und hilfreiche Präzisierungen der Inhalte. Vielen Dank an Donato für die Organisation und die Gastfreundschaft. Wir sehen uns gerne wieder in Turin.