Burton-on-Trent (UK), November 2019

Seminar mit Doshu Yoshigasaki

"Ich warte seit 2001 auf den Bus und er ist nicht gekommen."

Der Flug von Wien kam pünktlich Freitagnachmittag in London Heathrow an. Von dort bin ich mit der Familie mit dem Auto in die Midlands gefahren. Dann konnte, wie vorgesehen, die wilde und unvorhersehbare Reiselotterie, was die Eisenbahnreisen im Vereinigten Königreich sind, wirklich beginnen. Der von mir ausgesuchte Zug von der kleinen Stadt Market Harborough nach Burton, mit Umsteigen in Leicester und Derby, war gestrichen. Meine Anfrage am Schalter nach anderen Optionen wurde in einem entspannten, lässigen Ton beantwortet: „Ich denke, Burton ist immer noch überflutet und es fahren keine Züge“. Da ich das bezweifelte und weil ich die Lage vom Auto aus bereits genau im Internet verfolgt hatte, wartete ich darauf, dass er im System nachprüfte und dann bestätigte, dass es schliesslich doch möglich sein könnte.
Mit (nur) einer Stunde Verspätung in zwei vollgepackten Zügen meist mit einer Britishness im Stil von "nur die Ruhe bewahren!" wurde ein dunkles und herrlich schmuddeliges Burton erreicht, das vom Bahnhof aus sofort an seiner noch immer viktorianischen und zeitgenössischen Bierbrautopologie zu erkennen war. Ich sage 'nur', weil ich nicht nur das Training pünktlich wie geplant erreichte, sondern auch weil die günstige Verspätung (im Gegensatz zu einem potenziellen Harmagedon) die einzigartige Gelegenheit bot, eine örtliche Institution optimal auszuloten und die Sinne mit einer schnellen Halben zu verwöhnen: in der entzückenden Coopers Tavern, die gerade am Weg lag.
Eines der seltsamsten und interessantesten Pubs, die ich je gesehen habe und später am Abend besuchte, begrüsst die Gäste des zentralen Travelodge-Hotels, in dem einige von uns übernachtet haben. Es handelt sich um ein historisches, langgestrecktes, einstöckiges Gebäude, das sich jetzt einfach so in der Mitte des Hotelparkplatzes befindet. Aber das ist eine andere Geschichte.

Über die Bedeutung von Do (道) oder "Ich habe seit 2001 auf den Bus gewartet und er ist nicht gekommen"

Trotz der Warnungen und der Aufforderungen, aktiv etwas zu tun, beginnend mit dem Club of Rome (Die Grenzen des Wachstums, 1972) und der Abwärtsbewegung der Weltwirtschaft in den letzten Jahrzehnten, wurden keine neuen internationalen Vereinbarungen getroffen, um eine neue Richtung festzulegen. Es zeigte sich, dass " ...es unmöglich ist, dass sich alle auf dasselbe einigen". Ältere Menschen unter uns haben diese grossen Wandlungen durchlebt und können somit verstehen, wie sich die Welt verändert hat. Im Allgemeinen sahen die Menschen vor 40 oder 50 Jahren jedoch Verbesserungen und ein besseres Leben am Horizont. Was ist mit den jungen Menschen heute? "Was sollen wir tun, wenn die Zukunft negativ aussieht, wenn es mit dem Leben abwärts geht?"
Ein Wert der Kampfkunst besteht darin, das Leben zu verstehen, ohne dass Gefühle, Emotionen und Psychologie die Wahrnehmung trüben. Wenn zum Beispiel jemand aggressiv handelt, ist es nur wichtig, was Sie tun und nicht, was Sie fühlen. Deswegen ist es wichtig, was Sie tun (agieren) und nicht, was Sie fühlen oder notwendigerweise denken. So entsteht die echte Wahrnehmung des Lebens: Nicht für die Vergangenheit, sondern für die nächste Sekunde. Das ist die Basis. Mit anderen Worten, für die Frage nach der zukünftigen Gestaltung des Lebens und dieser Welt ist es nicht besonders nützlich, den zukünftigen Weg mit der Vergangenheit zu vergleichen, sondern von der augenblicklichen Position aus zu erkennen und zu handeln, was jetzt sofort (in dem kleinsten wahrnehmbaren Zeitrahmen) getan werden kann.
Dies wirft die Frage auf: Was ist positiv und was ist negativ? Positiv ist (möglicherweise), wenn der Geist in der Zukunft liegt. Wenn der Geist in der Vergangenheit liegt, ist er (möglicherweise) negativ. Die Definition von Doshu vermeidet die teleologische Falle (dass ein „positiver Verstand“ zwangsläufig bestimmte positive Ergebnisse hervorbringt), indem „potenzielle“ Ergebnisse berücksichtigt werden. Ich werde auf eine lange Diskussion über philosophische Fragen verzichten, und überlasse es den Lesern, über die Bedeutung und Konsequenz dieses Konzepts für sich selbst nachzudenken.

Tun Sie Ihr Bestes

Tun Sie Ihr Bestes, um eine bessere Zukunft zu schaffen. Nicht nur Menschen im Allgemeinen, sondern auch Aikido-Meister haben Schwierigkeiten, diese Idee zu verstehen. Zum Beispiel, wenn sie "positiv" dadurch definieren, dass sie sich besser fühlen. Das ist nicht auf Gefühle und Emotionen reduzierbar. Die Zukunft besser zu machen ist eindeutig eine soziale Frage, die auf Beziehungen basiert. Es geht nicht einfach darum, "das zu tun, was man will". Dies mag sich nach einer utilitaristischen Philosophie anhören, ist aber ganz anders. Sensei meinte, dass "Aikido wie ein Witz" sei. Ein Witz kann viele Dinge sein und, obwohl er einen Nutzen haben mag, ist er im Sinne einer klaren Funktion oder eines klaren Zwecks nicht nützlich. Wenn Sie Techniken erlernen, sei es in Wissenschaft, Medizin, Architektur oder Aikido, dann möchten Sie diese Techniken normalerweise anwenden. Für mit „Punktmathematik“ lösbare Aufgaben, die mit festen Materialien arbeiten, hat dies eine Bedeutung und einen Wert. Zum Beispiel beim Bau einer sicheren Brücke an einem geeigneten Ort. Aber dann muss noch längst nicht klar sein, ob es gut oder positiv für die gesamte Gesellschaft ist (ist es eine gute Verwendung der Mittel, kommt es den Menschen und Tieren zugute, die in der Nähe der Brücke leben? usw.). Ganz klar, im Kontext der Künste und im täglichen Leben ist dies eine wichtige Frage. Andererseits ist „Formmathematik“ das Studium des Lebens und der Beziehungen. Aikido und Kunst fallen in diese Kategorie und sollten versuchen, den menschlichen und sozialen Zustand auszudrücken und zu entwickeln.

Gute alte Zeiten?

Wenn die Zukunft rosig aussieht, können Sie gerne die Vergangenheit mit der Zukunft vergleichen, es entwickelt sich ja zum Besseren. Aber wenn die Zukunft trüber als die Vergangenheit aussieht, ist ein Vergleich eindeutig unangenehm. In solchen Zeiten ist es umso wichtiger zu fragen, was getan werden kann. Seit dem Jahr 2000 ist die Welt ärmer geworden. Den meisten Menschen geht es entweder schlechter oder sie sind arm geblieben. Doshu drückte es so aus, dass "die Welt alt wird". Genau wie Menschen kann sie alt und schwach werden. Die Babyboomer-Generation ist eine besondere Generation. Sie erlebten bemerkenswerte Veränderungen, Wirtschaftswunder usw. Jetzt haben junge Menschen diese Aussichten nicht mehr. Ihre Zukunft sieht düsterer und ärmer aus.
Jetzt muss nur noch jeder seinen eigenen Weg finden = Dō. Dies ist heutzutage der Wert und die Bedeutung des (Aikidō-) Übens. Dō wird als ein Weg definiert, der Schritt für Schritt gelebt wird. Mit anderen Worten, es ist ein Weg, den man geht. Auf diese Weise ist es immer möglich, den Kurs zu ändern. Finanzielle Investitionen, Zug- und Flugreisen lassen dies nicht zu: Warten Sie, investieren Sie (Zeit oder Geld), fahren Sie rechtzeitig geradeaus. Es ist schwierig, den Kurs zu ändern, sobald das Flugzeug oder der Zug einmal in Bewegung sind. Daher gibt es einen klaren Unterschied zwischen Dō als kontinuierlichem Prozess der Lebensführung und den Prozessen in der Industrie und Technologie der modernen Erdöl- und energiebasierten Wirtschaft.
Im realen oder täglichen Leben kann ein Dō viele Erscheinungsformen haben. Es kann zum Beispiel Joggen sein oder alles, was das Leben in der eigenen Umgebung verbessern soll. Aikidō ist nur ein Dō, wir können jedoch davon ausgehen, dass es sich um eine fortgeschrittene Praxis handelt. Dō ist nicht nur etwas Japanisches. Es gibt einfach eine klare Konnotation durch eine kulturelle und künstlerische Tradition (Chadō, Ikebana, Kalligraphie, Töpferei usw.). In jedem Fall scheint der Begriff sowohl das Individuum (um seiner selbst willen) als auch zum Teil die sozialen Beziehungen (um das soziale Leben zu verbessern) zu umfassen.

Burton-on-Trent

Eine Anmerkung zur Sprache

Die japanische Sprache unterscheidet sich komplett von der chinesischen. Es ist eine ganz andere Sprachfamilie. Die Tatsache, dass die japanische Sprache chinesische Schriftzeichen verwendet, bedeutet nicht, dass sie auch die Bedeutungen übernommen hat. Zum Beispiel: Dō (道) ist mit dem chinesischen Wort (Tao/Dao) verwandt, aber der echte japanische Ausdruck ist michi (み ち). Michi bedeutet die Fortsetzung von etwas (in eine unbekannte Zukunft). Wir sollten immer über die Bedeutung von etwas nachdenken und in der Lage sein, neue Bedeutungen zu verstehen oder zu schaffen. Die Formen von Kenkōtaisō und Aikitaisō sind Bedeutungsträger für Aikidō. Ein Beispiel: Ikkyō tenshin. Was bedeutet diese Übung? Welche Hand ist beim Richtungswechsel am wichtigsten, hanmi oder gyaku hanmi? Betrachten Sie den Angriff von hinten (ushirodori) und die Bedeutung von gyaku hanmi.

Formen und Symmetrie

Formen und Symmetrien sind eine Möglichkeit, die Übungen zu begreifen.
Was ist aus welcher Form möglich? Betrachten Sie Gruppen von Techniken, die auf der gleichen Form von Uke basieren. Zum Beispiel
  • Katatekosadori kokyunage tenshin (Hand öffnen) und irimi (Hand schliessen)
  • Katatedori kokyunage I und II (Griff lösen), wegwerfen und eine Aufwärtsbewegung ausführen, die auch das Gesicht vor einer möglichen Verwendung des Arms oder der Hand schützt.
  • Katatedori Shihonage (Shihonage - der Ellbogen sollte nicht höher als die Schulter sein - nicht hochdrücken, sondern die Knie beugen). Alle starten von der gleichen Form von Uke. Dies kann noch viel weiter erforscht werden.
Symmetrie:
Zum Beispiel von koteoroshi nach ikkyo/sankyo durch Drehen in die eine oder andere Richtung. Es gibt viele Möglichkeiten mit Symmetrie zu arbeiten. Drehung (in diese oder jene Richtung) ist eine Möglichkeit, sich dies vorzustellen und entsprechend zu üben.

Die Teilnehmer des Lehrgangs kamen aus England und Wales und dank der Initiative von Linda Gale nahmen auch einige Aikidoka von anderen Aikido-Organisationen teil.
Das nächste Seminar im Vereinigten Königreich wird vom 17. bis 20. April 2020 wieder in Burton stattfinden.

Ryan Jepson, 13.12.19, Ki, Aikido und Gesundheit  Wien
(Der Autor nahm nur am Freitagabend und am Samstag am Lehrgang teil)